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Der Fluch des Tigranes?

© Rolf Meisinger • Mannheim
Übersetzung Tatjana Meisinger

Beitrag aus Jenseits des Irdischen, Ausgabe 5/2005

„In Armenien haben die Archäologen eine Grabstätte entdeckt, die sehr vielversprechend zu sein scheint. Sie wird auf etwa 1. Jahrhundert v. Chr. datiert. Die Grabstätte eines Königs. Nur steht noch nicht fest, welchem König genau sie gehören könnte. Doch einen Hinweis gibt es wohl. Ein Name: Tigranes. Vielleicht ist es Tigranes der Große, der Armenien von 95 bis 55 v. Chr. regierte. Die Ruhestätte scheint unversehrt zu sein. Die Archäologen fanden auch den königlichen Sarkophag. Da trafen sie auf ein Problemchen. Auf den ersten Blick etwas völlig Irrelevantes… Die Inschriften auf diesem Sarkophag warnen vor einem auf der Grabstätte lastenden Fluch. Um unerwartete Geschehnisse zu vermeiden, hat man die Ausgrabungen erstmal gestoppt. Wieso? Ich erkläre es.
In Juni 1941 wurden die Überreste von Timur Tamerlan in Samarkand geborgen. Auf seinem Steinsarg lag angeblich auch ein Fluch. Einen Tag später fiel Hitler mit seinen Heeren in die Sowjetunion ein. Der Krieg forderte Millionen Menschenleben.
Wir müssen die Geschehnisse, die schon fast 50 Jahre zurückliegen, unter die Lupe nehmen und herausfinden, ob es einen tatsächlichen Zusammenhang zwischen der Öffnung der Grabstätte und dem Beginn des Krieges gibt.“
So trug uns unser Vorgesetzter, Major Galkin unsere neue Aufgabe vor.
Es wurde beschlossen, die Informationen zu diesem Fall erstmal vorab zu sammeln. Oberleutnant Schuravlev und Feldwebel Djatlov fuhren noch am selben Tag nach Samarkand, um sich vor Ort einen persönlichen Eindruck zu machen und um die hiesigen Büchereien durchzuforsten. Hauptfeldwebel Tscheglitzki, zusammen mit Leutnant Sinitzin, begaben sich nach Taschkent, um dort in den Archiven und Museen Erkundigungen über das Mausoleum Gur-Emir einzuholen und eventuell sogar die damaligen Zeugen ausfindig zu machen. Hauptmann Strisch, Unteroffizier Voronjan und ich flogen nach Moskau, um dort einen Teilnehmer der früheren Ereignisse aufzusuchen. Es war ein alter NKWD-Offizier (NKWD - Vorgängerorganisation des KGB), dessen Aufgabe in dem fernen 1941 Beaufsichtigung und Kontrolle der Ausgrabungen gewesen war. Major Galkin koordinierte von der Basis aus die Arbeit aller drei Gruppen.

Element des Grabsteines von Timur Tamerlan           Mausoleum Gur-Emir in Samarkand 


Als wir uns nach einigen Tagen alle in Samarkand wieder trafen, tauschten wir die gewonnenen Erkenntnisse aus.
Sinitzin und Tscheglitzki berichteten, dass sie zwar einen Zeugen (den damaligen Kameramann, der die Ausgrabung dokumentieren sollte) hätten besuchen können, es aber für eine Zeitverschwendung hielten. Sie konnten hunderte Zeitungs- und Fernseh-Interviews des Mannes zu dem Thema anschauen und stellten fest, dass sie alle sich wie zwei Regentropfen glichen. Der inzwischen sehr alte Mann konnte bestimmt auch jetzt nichts Neues berichten. Also nahmen sie sich die Filme in den Archiven vor, die er damals gemacht hatte. Sie haben leider feststellen müssen, dass diese Materialen für unsere Aufgabe überhaupt nichts Verwendbares enthielten. In den Medien-Archiven aus dieser Zeit gab es mehrere Zeugenberichte von den drei Greisen, die noch vor der Graberöffnung am Mausoleum Gur-Emir mit einem Hauch von Mysterie erschienen sind und alle Beteiligten davor warnten, das Grab zu öffnen. Sonst würde schreckliches Leid über das Land kommen. Außerdem teilten sie uns sehr viele äußerst interessante, aber in diesem Fall völlig unbrauchbare historische Tatsachen mit.
Strisch meldete der Gruppe, was uns der alte NKWD-Mann in Moskau erzählt hatte. Nämlich, dass es von seinen Leuten, die damals mit der Beobachtung der Arbeiten beauftragt wurden, auch Filmmaterial gibt. Er händigte uns sogar ein Band aus, das wir erstmal ins Labor geschickt haben. Und er eröffnete uns, dass die Geschichte mit den drei Greisen aus provokativen Gründen von den Witzbolden der hiesigen NKWD-Abteilung inszeniert worden war. Also standen wir wieder bei Null.
Schuravlev und Djatlov wurden in Samarkand durch einen Zufall auf den Tod von einem kleinen Jungen aufmerksam. Dadurch kamen sie auch zu ungewöhnlichen Erkenntnissen. Jedes Jahr, von Anfang Juni bis etwa Mitte Juli, stieg auf unerklärliche Weise die Sterbensrate in dem Stadtteil, wo sich das Mausoleum Gur-Emir befindet. Es war keine Rede von Tausenden oder Hunderten Opfern, aber die Rate stieg wirklich deutlich an. Als ob es hier eine Art lokale Epidemie ausgebrochen wäre. Die Symptome der Krankheit, die jeden Sommer mehrere Menschenleben forderte, waren denen der Pest ähnlich, aber nicht ganz. In den Archiven waren die ersten Aufzeichnungen, die über diese Seltsamkeit berichteten, mit 1878 datiert. Also konnte man es auch in keiner Weise mit der Öffnung des Grabes von Timur in Verbindung bringen.
Also lieferten unsere Nachforschungen bis jetzt auch keine brauchbaren Ergebnisse. Denn bis auf einige Legenden, der Inschrift auf dem Sarkophag des Timurs selbst und eventuelle Abweichungen des Magnetfeldes im Mausoleum, die wir auch nicht nachweisen konnten, hatten wir nichts in der Hand.
Als wir am nächsten Tag Gur-Emir betraten, waren wir alle von der architektonischen Schönheit und Vollkommenheit der Anlage überwältigt. Sie wird ja auch nicht umsonst als Perle der Architektur in Asien genannt. Touristenscharen und einheimische Gläubige, die die zur Anlage gehörende Moschee aufsuchten, fügten den unter diesen herrlichen Kuppeln in den Jahrhunderten gesammelten Geräuschen und Bilder ihre eigenen hinzu.
Bei unseren Untersuchungen in der Anlage konnten wir auch nichts Redenswertes entdecken. Bis auf mehrere Rattenlöcher. Schuravlev und Djatlov identifizierten die Ratten sofort als die Überträger der seltenen Krankheit, die wahrscheinlich aufgrund der besonderen Inkubationszeiten gerade in den Sommermonaten ausbrach.
So arbeiteten wir an einem Geheimnis, klärten aber ein völlig anderes auf.
Um sechs Uhr früh am nächsten Morgen standen wir alle am Mausoleum und beobachteten den Anfang der groß angelegten Operation, die von den Epidemiologen und dem Militär gemeinsam durchgeführt wurde. Dieser Anfang bestand in der Ausrottung der Ratten, die die Krankheitserreger weiter verbreiten konnten. Mehrere Soldaten, mit extra umgerüsteten Flammenwerfern bewaffnet, nahmen sich ein Rattenloch nach dem anderen vor. Die Feuerzungen, in so einen Bau mit enormem Druck gezielt gesprüht, kamen mit unheimlichem Geräusch an einer anderen Stelle aus dem Boden und warfen dabei die verkohlten Rattenkadaver heraus. Es war ein grausam fesselnder Anblick. Im Morgengrauen aus dem Boden hoch schießende Flammen, menschliche Schatten, die zu tanzen schienen, und überall Ratten. Das alles zwang mich, den Bleistift in die Hand zu nehmen und die flüchtigen Eindrücke aufzuzeichnen.

Als wir bereits zur Basis zurück kehrten, kam das Band aus dem Labor. Das Band, was uns der alte NKWD-Offizier überlassen hatte. Wir stellten einen Kinoprojektor auf und setzten uns wie im Kino hin. Der Film war, trotz der Bemühungen den Jungs aus Labor, in einem alles andere als perfekten Zustand.
Zuerst sahen wir einen Mann, der in der Hocke vor dem Sarkophag saß und die Ornamente darauf musterte. Dieser Mann war der berühmter Wissenschaftler und Anthropologe Gerasimov. Die Kamera schwenkte von einer Wand der Grabkammer zur anderen. Dann kam sie wieder auf Gerasimov zurück. Der Mann war in der Kammer allein. Er saß weiterhin da und war scheinbar in seine Gedanken vertieft. Plötzlich ertönte ein ziemlich lautes Geräusch. Als hätte man Metall auf den steinernen Boden fallen lassen. Gerasimov richtete sich auf. Die Kamera zuckte in Richtung des Geräusches. An der Stelle lag ein Wagenheber. Denn der Sarkophag wurde mit Hilfe von Wagenhebern geöffnet. Gerasimov schien dem kleinen Vorfall keine Bedeutung beizumessen. Denn er wandte sich wieder dem Sarkophag zu. Dann hörte man einen zweiten Wagenheber fallen. Die Kamera erfasste auch diese Tatsache und kam wieder auf Gerasimov. Der Anthropologe sah zum Eingang der Grabkammer und sagte laut:
„Mach keinen Unfug!“
In den nächsten fünf Minuten passierte in der Grabkammer überhaupt nichts. Dann erschien an der Wand hinter Gerasimov ein Schatten. Ein großer Schatten eines Menschen mit einer sich nach oben zuspitzenden Kopfbedeckung. Dabei war derjenige, dem der Schatten gehörte, nirgends zu sehen. Dann stand der Anthropologe auf und hob den Kopf. Sein Gesicht wurde ernst, sogar finster. Was seine Aufmerksamkeit erweckte, konnten wir nicht entdecken. Die Szene dauerte so um die drei Minuten an. Dann kamen in die Grabkammer die restlichen Wissenschaftler der Regierungskommission, die mit der Öffnung der Grabstätte betraut wurden. Damit endete das Band.
Major Galkin bat Feldwebel Djatlov den Film erneut laufen zu lassen. Unser Koch Voronjan war währenddessen in dem Nebenzimmer, das zur Küche umgebaut wurde. Als der Film zum zweiten Mal durch war, behauptete er, ein tiefes Flüstern gehört zu haben.
Wir drehten uns alle von der Leinwand ab. Das Band lief noch einmal. Irgendwann hörten wir tatsächlich das Flüstern. Finster, bedrohlich, in einer fremden Sprache. Wahrscheinlich, als wir uns den Film ansahen, konzentrierten wir uns nur eher auf die Bilder und empfanden dieses Flüstern bestenfalls als Tonstörungen.
Die Sprache konnte keiner von uns zuordnen. Galkin ließ Djatlov und Sinitzin das Band sofort wieder ans Labor schicken. Während er mit den Begleitpapieren beschäftigt war, meinte Djatlov, dass er den Schatten, den wir auf dem Band gesehen hatten, auch davor zu Gesicht bekommen hatte. Vor kurzem. Dann bat er mich, meine Zeichnungen, die ich in Samarkand gemacht hatte, zu bringen. Auf das Ergebnis gespannt, brachte ich sie in die Bibliothek und legte auf dem großen Tisch aus. Djatlov wählte eine davon aus.
Ich sah sie mir an und spürte das Unbehagen meinen Rücken entlang zum Nacken hochsteigen. Es war die Zeichnung von der großen morgendlichen „Kammerjägeraktion“. Ich sah erst jetzt, was Djatlov uns die ganze Zeit sagen wollte. Da waren meine Kameraden. Alle, außer Sinitzin. Aber an der Wand des Mausoleums gab es statt sechs Schatten - SIEBEN! Eine von diesen sieben Schatten war doppelt so groß und endete oben mit einer Spitze. Als hätte derjenige, dem er gehörte, eine seltsame Kopfbedeckung. Vielleicht auch einen mittelalterlichen asiatischen Helm. Ich erinnerte mich, dass ich die Aufzeichnungen ganz schnell gemacht hatte. Wahrscheinlich sah ich nichts dabei in diesem, zugegeben, ungewöhnlichen Schatten.

In Samarkand, in der Moschee Bibi-Chanym, die zu Tamerlan-Zeiten errichtet worden war, gibt es eine seltsame Inschrift. Es gibt Meinungen, die Inschrift hätte „Timur - der Schatten Gottes auf Erden!“ lauten sollen. Schlich sich hier ein fürchterlicher Fehler ein, oder hatte der unbekannte Meister ihn absichtlich gemacht, das werden wir höchstwahrscheinlich nie erfahren. Aber über der alten Stadt brennt, wie ein Brandzeichen, de facto folgende Inschrift: „Timur - der Schatten“!

Der Große Väterliche Krieg kostete mehr als 20 Millionen Menschen das Leben. Ob tatsächlich eine Verbindung zwischen diesem abscheulichen Gemetzel und der Graberöffnung von Timur Tamerlan bestand, konnten wir nicht nachweisen.
Die Gründe für den Krieg in Nagorny-Karabach sind mehr oder weniger bekannt. Aber vielleicht ist da auch nicht alles klar? Drei Jahre nach den oben geschilderten Ereignissen erfuhr ich, dass die Grabstätte eines armenischen Königs mit dem Namen Tigran gerade an der Grenze zwischen Armenien und Aserbaidshan gefunden wurde. Und genau - in Nagorny-Karabach.

Siehe auch im Internet unter
www.kunst-merlin.de

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